Anita Menger 2020
Das widerspenstige Schneeglöckchen
Aufwachen, es wird höchste Zeit!“, rief die Zwiebel des Schneeglöckchens zum wiederholten Male. Gähnend kam die mürrische Antwort: „Ach du, lass mich weiterschlafen – ich sehe nicht ein, warum wir immer so zeitig raus müssen!“
„Aber du weißt doch, dass die Menschen, vor allem aber auch die Hummeln, Bienen und Käfer auf euch warten!“, mahnte die Zwiebel. „Na und? So schlimm wird es schon nicht sein, wenn ich später komme – letztes Jahr habe ich gehört, dass es Schneeglöckchenarten gibt, die erst im Herbst blühen!“, trotzte das Schneeglöckchen.
„Aber du gehörst nun einmal zu der frühen Sorte, die den Frühling einläutet und, mit wenigen anderen Pflanzen, den ersten, überlebenswichtigen Nektar für Hummeln und Bienen spendet!“, entgegnete die Zwiebel. „Meine Schwestern können ja schon einmal vorausgehen, die freuen sich ja immer mächtig zu den Ersten zu gehören!“, antwortete das Schneeglöckchen uneinsichtig und setzte abschließend hinzu: „Ich komme nach, wenn ich ausgeschlafen habe und jetzt lass mich endlich in Ruhe!“
Die Zwiebel seufzte, sie drang einfach nicht zu ihrem Pflänzchen durch. Schon letztes Jahr hatte es ihre ganze Überredungskunst gekostet das Schneeglöckchen dazu zu bewegen, sich rechtzeitig auf den Weg ans Tageslicht zu machen. Es musste wohl erst aus Erfahrung klug werden. So ließ sie es schweren Herzens schlafen.
Indessen machten sich die Geschwister des Schneeglöckchens auf ihren mühsamen Weg durch die noch harte Erdschicht, um ans Tageslicht zu gelangen. Oben angekommen, schüttelten sie ihre Glöckchen, um sie von den Erdresten zu befreien und ließen sie vorsichtig schwingen. Mehr brauchte es nicht um die ersten Hummeln anzulocken, die sie begeistert umschwärmten und dankbar ihren sehnlichst erwarteten Nektar sammelten. So blühten sie, bis sich ihre Zeit dem Ende näherte und sie zu welken begannen.
Endlich war auch das widerspenstige Pflänzchen aufgewacht. Es streckte sich gähnend und machte sich in aller Ruhe auf den Weg an die Erdoberfläche. Wie freute es sich, dass die Erde schon viel weicher war. Es musste sich kaum noch anstrengen. So kam es ausgeruht und gut gelaunt ans Tageslicht.
Kaum, dass es seinen Kopf durch die Erde gesteckt hatte, sah es sich um und entdeckte seine Schwestern, die sich allerdings schon auf dem Rückzug befanden. „Bleibt doch noch ein bisschen hier!“, bat das Schneeglöckchen. „Das geht nicht, wir haben die uns bestimmte Zeit hier verbracht, jetzt sind wir müde und müssen uns zurückziehen, um neue Kräfte für das nächste Jahr zu sammeln!“, antworteten seine Schwestern.
„Na gut!“, dachte sich das Schneeglöckchen. „Dann können sich die Hummeln und Bienen auf mich konzentrieren, wie dankbar werden sie mir sein, dass ich noch hier bin!“ Aber da täuschte sich das Schneeglöckchen gewaltig. Weder Bienen noch Hummeln waren an ihm interessiert. So sehr es sich auch streckte und sich bemühte seine Glöckchen zum Klingen zu bringen, die Insekten ließen es links liegen.
Die Erklärung dafür erhielt das Schneeglöckchen, als eine Hummel mit ihrem Kind vorbeiflog. Die kleine Hummel rief ihrer Mutter zu: „Schau Mami, da ist noch ein Schneeglöckchen, wollen wir nicht seinen Nektar mitnehmen?“ Die große Hummel warf einen prüfenden Blick auf das kleine Schneeglöckchen, schnupperte und antwortete daraufhin kopfschüttelnd: „Nein, das lohnt sich nicht, schau doch, wie mickrig dieses Pflänzchen ist - sicher ist es krank oder es hat seine Zeit überschritten!“ Sie flogen weiter, ohne dem Schneeglöckchen noch einen Blick zu gönnen.
Das Schneeglöckchen war über das Gehörte sehr erschrocken. Es sah prüfend an sich herunter. Die Hummel hatte Recht, es war wirklich viel zarter als im Jahr zuvor. Da fielen ihm die Worte seiner Zwiebel ein, die erklärt hatte, dass der Kampf an die Erdoberfläche wichtig war, damit es groß und stark werden konnte. Ohne diese Anstrengung würde es eine schwache und kümmerliche Pflanze, die nicht fähig wäre, diesen reichhaltigen und wohlriechenden Nektar zu produzieren, den Hummeln und Bienen im Frühjahr so nötig brauchen. Das Schneeglöckchen musste erkennen, dass alles, was ihre Zwiebel ihr erzählt hatte, ehrlich und gut gemeint war. Es wurde sehr traurig und fing leise zu weinen an.
Die Zwiebel spürte die Verzweiflung ihres Pflänzchens und hatte Mitleid mit ihm. Sie setzte den Prozess des Welkens in Gang, so dass das Schneeglöckchen fühlte, dass es zurückgeholt wurde. In diesem Wissen überstand es die letzten trostlosen Tage seines Blühens leichter und ergab sich reumütig seinem Schicksal. Es war nicht leicht so unnütz und ungeliebt zu blühen, deshalb nahm es sich ehrlich vor in Zukunft ohne Murren zur rechten Zeit aufzustehen und seiner Bestimmung zu folgen.
Und tatsächlich, im nächsten Jahr war unser Schneeglöckchen eines der ersten an der Erdoberfläche. Es reckte sich stolz zu seiner vollen Größe auf, schüttelte sich sauber und ließ seine Glöckchen sanft schwingen. Voller Freude hörte es ihren zarten Klang und sah die ersten Hummeln auf sich zu fliegen, um dankbar seine Pollen und den reichhaltigen Nektar zu sammeln.
Als seine Geschwister nach und nach das Tageslicht erreichten, sahen sie erfreut, dass das Schneeglöckchen zur Vernunft gekommen war. Sie begrüßten sich mit großem Hallo und stimmten gemeinsam voller Freude das Lied der Schneeglöckchen an:
´s ist Schneeglöckchenzeit,
seht her, wir sind bereit!
Hell klingen unsre Glöckchen:
Ade ihr Winterflöckchen!
Der Frühling ist nicht weit,
´s ist Schneeglöckchenzeit!
*Das Lied der Schneeglöckchen wurde inzwischen um weitere Verse ergänzt. Hier findet ihr das komplette Schneeglöckenlied.
Anita Menger 2020
Frühlingserwachen
Es war Freitag, ein Vorfrühlingstag wie aus dem Bilderbuch. Die Sonne schien, frische Knospen und erstes Grün drängten ans Licht. Im Gegensatz zum frühen Morgen war es jetzt zur Mittagszeit angenehm mild. Viele Menschen zog es ins Freie, so dass hier in der Parkanlage ein munteres Treiben herrschte.
Ingeborg, die auf dem Heimweg war, nahm jedoch nichts davon wahr. Sie ging mit müden Schritten durch den Park, ohne ihrem Umfeld auch nur einen Blick zu schenken.
Sie sah weder den Hund, der übermütig bellend einem von seinem Frauchen geworfenen Stöckchen nachjagte, noch die Kinder, die fröhlich Verstecken spielten. Selbst das muntere Gezwitscher und Gerangel der Vögel, die sie früher so gern beobachtet hatte, konnte sie nicht aus ihrer Lethargie reißen.
Nach ihrem 4-stündigen Arbeitstag fühlte sie sich so müde und ausgelaugt, als hätte sie einen 12-Stunden-Tag hinter sich. Früher hätte sie so einen stressigen Tag wie heute locker weggesteckt. Das Alter machte sich eben doch langsam bemerkbar. In ein paar Monaten wurde sie immerhin schon 62 und die Krankheiten und Schicksalsschläge der letzten Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Dennoch hatten sie und Werner, ihr Mann, die Krisen überstanden, es ging ihnen verhältnismäßig gut. Trotzdem, im Moment wurde ihr alles zu viel.
In der Firma musste sie sich jeden Tag die ewigen Nörgeleien ihres Chefs anhören und bekam gleichzeitig die Ungeduld und Verärgerung vieler Kunden zu spüren. Dazu kam ihre eigene Unzufriedenheit, musste sie doch heute das allein bewältigen, was früher zwei Angestellte geschafft hatten. Zudem war es ihr wegen mangelhafter Ausstattung nicht möglich effektiv zu arbeiten. Als ob das nicht schon genug wäre, tötete ihr das ewige Klingeln des Telefons noch den letzten Nerv.
Kam sie nach der Arbeit nach Hause, wartete Werner, ihr Mann, der bereits in Rente war, auf sie und teilte ihr die neuesten Nachrichten mit, wobei er sich nach Herzenslust Luft machte. Das war auch ganz in Ordnung, sie hatten es schon immer so gehalten, dass sie sich abends erzählten, was es Neues gab. Aber Ingeborg hätte sich gewünscht, es gäbe öfter einmal etwas Erfreuliches worüber sie sich unterhalten könnten, stattdessen schien es so, als wären sie nur noch von Krisen, Gewalttätigkeiten und Katastrophen umgeben. Ob sie nun die Zeitung aufschlug oder das Fernsehgerät einschaltete, überall erwarteten sie negative Nachrichten, selten, dass einmal etwas Positives berichtet wurde. Man konnte fast den Glauben an die Menschheit verlieren.
Noch immer vertieft in ihre Gedanken übersah Ingeborg den kleinen Cockerspaniel, der ihr vor die Füße lief und geriet ins Stolpern. „Hoppla!“ hörte sie eine frische, männliche Stimme und fühlte eine starke Hand an ihrem Arm, die sie vor einem Sturz bewahrte. „Oh – vielen Dank!“ stammelte Ingeborg, hob den Kopf und begegnete dem freundlichen Blick eines jungen Mannes. „Nichts zu danken, tut mir leid, dass mein Tasso sie beinahe zu Fall gebracht hätte!“, antwortete er mit einem sympathischen Augenzwinkern.
„Ist auch wirklich alles in Ordnung mit ihnen?“, fragte er gleich darauf besorgt. „Aber natürlich, mir ist nichts passiert!“, erwiderte Ingeborg und gab sein Lächeln, noch etwas unsicher, zurück.
Nachdem Tasso auf den Pfiff seines Herrchens zu ihm zurückgekommen war und sich der junge Mann nochmals überzeugt hatte, dass Ingeborg unversehrt war, verabschiedete er sich freundlich und setzte seinen Weg fort.
Ingeborg ging noch ein paar Schritte, entdeckte eine Bank und setzte sich. Das kurze Zwischenspiel hatte sie aus ihren trübsinnigen Gedanken gerissen. Fast verwundert nahm sie den lauen Frühlingswind in ihren Haaren und die angenehme Wärme der Sonne auf ihrer Haut wahr.
In Gedanken sah sie wieder dieses lustige Augenzwinkern des jungen Mannes, es erinnerte sie an die erste Begegnung mit Werner. Damals, als sie sich kennenlernten, hatte er mit einem ebenso fröhlichen Zwinkern in seinen strahlenden Augen ihr Herz gewonnen.
Sie lächelte und gleichzeitig regte sich ihr Kampfgeist: Nein, sie würde sich nicht unterkriegen lassen, sie wollte ihre Lebensfreude zurückgewinnen und mit ihrem Mann jeden Tag, der ihnen gemeinsam vergönnt war, genießen. Entschlossen stand sie auf, um ihren Heimweg fortzusetzen.
Unterwegs fiel ihr ein, was ihr eine Freundin kürzlich erzählt hatte: Sie hatte im Internet eine Seite gefunden, die ihrem Namen „Nur positive Nachrichten“ alle Ehre mache.
Ingeborg wollte gleich heute Abend danach suchen und sie sich zusammen mit Werner ansehen. Außerdem musste sie unbedingt mit ihm sprechen und ihm erklären, was in ihr vorging. Sie wusste, dass er sich Sorgen um sie machte, seine Blicke sprachen Bände, aber bisher konnte sie nicht mit ihm reden, da ihr selbst nicht ganz klar war, worin ihr Problem lag.
Als sie nach Hause kam, begrüßte Werner sie erleichtert und nahm sie in den Arm. Er hatte Ängste ausgestanden, da sie länger ausgeblieben war als sonst. Als er ihr aber in die Augen sah, wusste er, dass alles in Ordnung war, er hatte seine Ingeborg wieder, die Frau, die er liebte und um die er sich in letzter Zeit so gesorgt hatte.
Am nächsten Tag gingen sie zusammen im Park spazieren, fütterten die Enten am Teich, freuten sich über das Gezwitscher und muntere Treiben der kleinen Spatzen und genossen mit allen Sinnen den erwachenden Frühling.
Sie redeten und lachten, und als Ingeborg in Werners Augen sah, entdeckte sie darin wieder dieses lang vermisste, fröhliche Zwinkern.